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Warum hatte sich Sebastian überreden
lassen zu dieser Hokuspokusveranstaltung mitzukommen? Bloß um einer weiteren
Diskussion aus dem Weg zu gehen, hatte er schließlich doch eingewilligt. Nun
stand er vor dem Tor, das in den kleinen Garten führte und es war zu spät für
einen erneuten Protest. In einer Ecke des Gartens, von Büschen und alten Bäumen
umgeben lag ein kleines Haus. Es war nicht viel größer als eine Laube oder ein Schuppen.
Seine Freundin und die anderen Teilnehmer der Veranstaltung gingen geführt von
einer jungen Südamerikanerin auf diese Hütte zu. Er kannte die Art der Leute
genau, sie standen auf Panflötenmusik und verrückte esoterische Praktiken,
glaubten an Geheimlehren und Geister.
Sie betraten die kleine Hütte und
kamen in einen dunklen Raum. In der Mitte war eine Feuerstelle, über der ein
großer Rauchfang von der Decke hing. Die Luft im Zimmer war feucht und stickig.
Es roch nach Kerzenwachs und Rauch. Der Duft erinnerte Sebastian an einen
Kirchenraum. Etwas erhöht auf einem Podest saß ein alter Mann. Die junge
Südamerikanerin mimte für ihn die Übersetzerin und stellte jeden Gast vor. Mit
einer freundlichen Geste forderte der Alte sie auf, auf dem Boden um die
Feuerstelle platz zu nehmen.
Der alte Schamane zündete ein Feuer
an, das rasch und fröhlich knisternd aufflammte. Er gab ein Tongefäß in die
Runde der Gäste und forderte jeden auf, einen Schluck daraus zu trinken und
dabei die Fragen oder Wünsche die ihn bewegten still zu stellen. Als Sebastian
das Trinkgefäß überreicht wurde, zweifelte er noch immer und dachte, dass er an
alles was vielleicht noch geschehen würde nicht glauben könnte. Nur einen
kleinen Schluck trank er. Die Flüssigkeit schmeckte ekelhaft, bitter und nach nasser
Erde.
Nach dem jeder etwas von dem
Trank genommen hatte, stellte der Schamane einen Dreifuß in die Flammen des
Feuers, auf dem ein flacher Topf ohne Henkel stand. Den Topf füllte er unter
beschwörendem Singsang mit Öl, das bald heftig zu rauchen begann. Mit einer
unerwartet schnellen Bewegung schütte er ein kleines Glas Schnaps hinein und
unter lautem Zischen stiegen die Stichflammen bis zum Rauchfang hinauf. Die
junge Südamerikanerin fing in diesem Moment an eine kleine Trommel zu schlagen.
Bis auf das Feuer in der Mitte schien der Raum in ein tiefes Dunkel zu sinken.
Nach etwa einer Viertelstunde
wurde es Sebastian unwohl. Gleichzeitig staunte er über die Flammen sie wirkten
sonderbar lebendig. Immer wenn sie sich beruhigt hatten, wurde aufs neue Milch
oder Schnaps hineingegossen, so dass ununterbrochen Stichflammen zur Decke
stiegen. Die anderen Teilnehmer der Zeremonie gerieten in Trance und wiegten
sich im Sitzen hin und her, lachten oder sprachen unverständliche Worte. Der
Rhythmus der Trommel klang jetzt in Sebastians Ohren schneller und fordernder.
Hinter dem Feuer wendete der Schamane seinen Blick nun ihm zu und sah in
durchbohrend an. Für einen kurzen Augenblick schien es, dass er diesen starken
Augen nicht standhalten könnte, dass sie glatt durch ihn hindurch gingen. Aber
dann hörte er eine tiefe Stimme in seinem Kopf: „Dein Wunsch ist der am
schwersten zu erfüllende!“ Sebastian bekam einen Riesenschreck, er konnte sich
nicht erinnern einen Wunsch beim Trinken geäußert zu haben.
Im selben Augenblick wurde hinter
dem alten Schamanen ein Nebel sichtbar, der sich weiter und weiter ausbreitete
und schließlich die Gestalt eines sehr großen menschenähnlichen Wesens annahm. Es
hatte einen Körper, Arme und Beine wie ein Mensch, doch hatte die Gestalt einen
großen Adlerkopf mit leuchtend grünen, scharfen Augen. Auf ein Wort des Schamanen
richtete sich die Gestalt zu seiner vollen Größe auf, schwang die Arme weit
auseinander und klatschte in die Hände. Ein ohrenbetäubendes Donnern tönte Sebastian
in den Ohren. Der Boden der Hütte schien unter ihm zu beben und augenblicklich
verschwamm der Raum vor seinen Augen. Für einen kurzen Moment blieb noch das
Feuer, das jetzt mit dunkelblauer Flamme brannte, sichtbar, dann verschwand auch
dieses in einer riesigen, scheinbar unendlich weiten Dunkelheit.
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Wesenlos von jeder Begrenzung durch
die Materie und den Raum befreit trieb Sebastian durch ein weites, scheinbar
grenzenloses Dunkel. Unter ihm war nichts, über ihm war nichts, vor und hinter ihm
war nichts, trotzdem zog ihn etwas immer weiter, wohin wusste er nicht. Für den
Bruchteil einer Sekunde glaubte er ein Paar leuchtend grüne Augen weit entfernt
in der Dunkelheit aufblitzen zu sehen und die Kraft, die ihn zu führen schien,
verschwand. Ehe er sich bewusst wurde was geschah, fiel er schneller und
schneller in ein abgrundtiefes Nichts.
Er fand sich in einem düsteren
Raum wieder, der nur von einem kleinen Feuer in der Mitte erleuchteten wurde.
Aber als er sich umwandte, war kein anderer Mensch mehr da. Er war nicht mehr
in der Hütte des Schamanen, sondern in einer dunklen Höhle. In einiger
Entfernung hörte er Wasser tropfen. Doch konnte er im Schein des Feuers kaum weiter
als ein paar Meter sehen.
Gerade hatte Sebastian begonnen,
seine Umgebung zu erkunden, als es in der Höhle heller wurde. Von einer
Lichtaura umgeben tauchte der alte Schamane in Begleitung des Adlerwesens auf. Er
sah sich kurz um und zu seinem Begleiter gewandt sagte er: „So ähnlich habe ich
es mir hier vorgestellt.“
Der Alte schien in der Dunkelheit
gut sehen zu können. Zielsicher lächelte er Sebastian an und mit einer
freundlichen Geste seiner Hand forderte er ihn auf, aus dem Schatten zu treten
und zu ihm zu kommen.
Dann fragte er Sebastian: „Was
glaubst du, wo wir hier sind?“ Sebastian wusste es nicht. „Wir sind in deinem
Inneren, in deiner geistigen Welt. Und es ist, wie ich befürchtete, hier Einiges
im Argen. Du hast vorhin den Wunsch geäußert, glauben zu können! Du zweifelst
an mir, an deinen Mitmenschen, an dir Selbst, an der Natur, an dem Kosmos aller
Dinge und an dem Witz und der frohen Unbeschwertheit, die hinter Allem steht.
Keines deiner Erlebnisse und Erfahrungen hat dich überzeugen können, das das
Leben lebenswert ist.
Glaubst du immer noch, dass es
nur eine Wirklichkeit, nur eine Welt gibt? Ist das, was du Wirklichkeit nennst,
nicht nur ein Gedankengebilde, das aus deinen Erfahrungen, Vorstellungen,
Wünschen und Vorurteilen besteht? Vor ein paar Sekunden hättest du mir nicht
geglaubt, wenn ich gesagt hätte, dass es in dir solch einen Ort gibt? Nun bist
du hier und deine Wirklichkeit hat sich hoffentlich um eine neue Dimension
erweitert. Glaube mir, es gibt in dir noch andere Räume, außer dieser dunklen
Höhle. Du weist nur nichts über sie, weil du dich nie aufgemacht hast, sie zu
erforschen. Ich werde dich jetzt in meinem Geist mitnehmen, um dir zu zeigen,
was aus deiner dunklen Höhle, aus deiner Welt werden kann.“
Ehe Sebastian etwas sagen konnte,
fühlte er sich empor in die Luft gerissen, trieb wieder durch diese weite
Dunkelheit, fand sich für Augenblicke in dem kleinen Haus wieder, in dem die
anderen Gäste der Veranstaltung saßen und nach Antworten auf ihre Fragen und
Wünsche suchten. Augenblicke später zog ihn dieselbe Kraft wieder davon.
Diesmal nicht in eine dunkle Welt sondern mitten durch den Raum auf den ruhig
und aufrecht sitzenden Alten zu. Kurz bevor er mit ihm zusammengestoßen wäre,
blendete ihn ein helles, weißes Licht. Dann fühlte er eine Hand auf seiner
Schulter. Er drehte sich um und traute seinen Augen nicht. „Sieh dich nur um“
sprach ein junger, kräftiger Mann zu ihm. Sebastian erriet nur deshalb das es
der Schamane sein musste, weil das grünäugige Adlerwesen hinter ihm stand.
Hier war es nicht dunkel und er
befand sich auch nicht in einer Höhle. Sondern auf einer Lichtung, umgeben von
riesigen tropischen Bäumen. Die Luft war erfüllt von unzähligen Vogelstimmen
und schwer von Duft unbekannter Blumen.
An einem Ende der Lichtung lief
ein schmaler Pfad einen Hügel hinauf. Wohin er führte, konnte man noch nicht sehen, große Büsche und
Bäume versperrten den Blick auf das dahinter liegende Land. Auf diesen Pfad
ging der Schamane jetzt zu, Sebastian folgte ihm willenlos. Einige
Schmetterlinge flogen vom Boden der Lichtung auf und ihre Flügel leuchteten rot
und dunkelblau im hellen Licht.
Auf der Hügelkuppe stand von
hohen Bäumen umgeben ein großes Haus, das aus weißen Steinen und dunklem Holz
gebaut war. Es wirkte sehr edel und hatte etwas von einem alten Palast oder
Tempel an sich. Offene Arkaden die von weißen Säulen getragen wurden liefen um
das Gebäude herum, das sich nach allen Seiten dem umliegenden Wald öffnete.
In dem zentralen Raum des Hauses
brannte ein großes Feuer ähnlich dem in Sebastians Höhle, doch war dieses
größer und heller.
Der Schamane der jetzt neben Sebastian
getreten war sprach zu ihm: „Hier brennt die Lebensflamme und das alles rings
herum, das Haus, der Wald, die Blumen und Tiere sind Teil meines inneren Raumes.
Wir können diese innere Welt pflegen und erweitern damit es keine dunkle Höhle
bleibt sondern ein lichter Ort des Lebens wird. Diese Welt hier ist wie ein
Spiegel, der in beide Richtungen wirkt, sowohl nach innen wie auch nach außen.
Bist du in deinem Wesen offen und aufnahmebereit, entdeckst du wahre Schönheit
in beiden Welten“
Vieles zeigte ihm der Schamane. Beispielsweise
gab es in dem Hause ein Zimmer, das einen mitten in den Weltraum führte. Darin
überwand man mit ein paar Schritten die Entfernung zwischen Galaxien, sah sie,
wie in einem Zeitraffer sterben und neu entstehen. Sebastian war Zeuge bei der
Geburt unendlich vieler Sterne, sah bei der Entstehung unzähliger Planteten zu,
beobachtete wie sich jeder von ihnen veränderte und alles um ihn herum in einem
riesigen Strom zu fließen schien.
Es gab noch andere Räume, in
denen man wie ein Adler durch die Lüfte segeln, mit bunten Fischen durch ein
Korallenriff schwimmen oder in die dunklen Weiten der Tiefsee abtauchen konnte um
namenlosen Wesen der Finsternis zu begegnen. Aber die meiste Zeit (die an diesem
Ort kaum zu vergehen schien) verbrachte Sebastian mit dem Schamanen. Sie saßen
schweigend nebeneinander in dem zentralen Raum des Hauses und sahen der hell
brennenden Lebensflamme zu. Eine starke, ihm unbekannte Kraft schien von dem
Feuer auszugehen, das aus dem Nichts zu brennen schien. Kein Holz oder etwas Anderes
lag in der ummauerten Feuerstelle und doch brannte dieses mächtige Feuer,
strahlt Wärme und Licht aus, erschaffte und belebte die Welt, von der sie ein
unverzichtbarer Teil waren.
Nach einer langen Zeit stand der
Schamane auf und sagte zu Sebastian, dass er jetzt gehen müsse. Die Zeit die er
hier verbringen könnte, sei vorbei. Im selben Augenblick überkamen ihn Schwindelgefühl
und Übelkeit, er hörte noch die Stimme des Schamanen etwas rufen, aber er
verstand sie schon nicht mehr. Einen Moment später öffnete er die Augen. Um ihn
herum war es dunkel und still. Scheinbar saß er allein in der Hütte, draußen
schien es Nacht geworden zu sein. Beim ersten Versuch aufzustehen musste er
feststellen, das seine Beine steif und völlig eingeschlafen waren. Sein Rücken
schmerzte, scheinbar hatte er seit dem späten Nachmittag ohne sich zu bewegen
hier gesessen. „Ist jemand hier!“ rief er, aber niemand antwortete. Nach ein
paar Minuten konnte er seine Beine dann doch lang ausstrecken und etwas später
aufstehen, die ersten wackligen Schritte wagen. Die Schmerzen im Rücken waren
schlimmer geworden und er taumelte vorgebeugt wie ein Greis in Richtung Tür. Innerlich
schimpfte er auf seine Freundin und auf sich selbst. Warum musste sie immer zu
solchen Veranstaltungen gehen und woher wusste sie eigentlich davon? In der
Zeitung hatte er noch nie von derartigen Treffen gelesen. Warum war er
überhaupt mitgekommen? Mit Sicherheit waren irgendwelche Drogen in dem Trank
gewesen. Dann erinnerte er sich an die merkwürdigen Erlebnisse, die er in den
letzten Stunden durchlebt hatte.
Sebastian wurde nachdenklich. Er
hatte das bestimmte Gefühl, das er nicht so einfach über dieses Erlebnis
hinweggehen konnte. Dazu war es einfach zu sonderbar gewesen. Er ging langsam
durch den nächtlichen Garten in Richtung Straße, als aus dem Schatten eines
Baumes die tiefe Stimme des Schamanen an sein Ohr drang. Ohne weiter darüber nachzudenken
ging er auf den Baum zu. Als er ein paar Meter näher heran gekommen war, sah er
den alten Schamanen auf einer Bank an den Stamm gelehnt sitzen und die Sterne
am Himmel betrachten. „Nun wie steht es jetzt mit dir Sebastian?“ fragte der
alte Schamane.
Die träumerisch, nachdenkliche
Stimmung verschwand schell aus den Gedanken Sebastians. Mit ärgerlicher Stimme
sagte er: „Was haben sie nur mit mir gemacht! Was sollte dieser ganze
Hokuspokus?“ In diesem Augenblick sprang der Schamane auf. Blitzschnell ehe
Sebastian wusste was geschah, verpasste ihm der Alte einen kräftigen Schlag ins
Gesicht. Er spürte den Schmerz und Tränen traten ihm in die Augen, aber
gleichzeitig schien der Schlag eine Tür geöffnet zu haben. Ein neuer Weg durch
eine neue Welt schien sich vor ihm auszubreiten. Sebastian sah sich in dem
nächtlichen Garten um und spürte, dass überall um ihn herum das Geheimnis des
Lebens deutlich zu sehen war. Er wandte seinen Blick dem alten Schamanen zu,
der ihn wieder zu durchschauen schien. Diesmal aber nickte er Sebastian
freundlich zu und wies mit seiner Hand auf den klaren Himmel voller Sterne.
Sebastian sah hinauf in die unendlichen, dunklen Weiten, hinauf zu den fernen
Sternen. Er spürte die Weite und Freiheit, die Leichtigkeit und Fröhlichkeit in
sich und in der Welt. Und er begann zu Lachen, ein Lachen, das all die Jahre
des Denkens und Haderns, der Bitterkeit und des Zweifels bedeutungslos werden
ließ.
Wow! Eine super Geschichte! VIelen Dank dafür <3
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