Auszug aus: "Das Erwachen des Thomas K."
Nun
schwieg er einen Augenblick, schließlich begann er erneut zu reden: „Vor
vielen Jahren, ich war gerade zwanzig Jahre alt, besuchte ich an einem
feuchtkalten Februartag eine barocke Wallfahrtskirche. Nachdem
ich durch das mächtige Eingangsportal getreten war und sich die Tür
hinter mir geschlossen hatte, umfing mich die Stille des weiten Raumes.
Niemand außer mir war in diesem Moment in der Kirche. Trotzdem spürte
ich, dass die Luft erfüllt war von etwas Unbekanntem und Wundersamen.
Erst erschien es mir wie ein stilles Echo der Zeit, eine Emotion
hervorgerufen durch das Alter und die Pracht des Gebäudes. Im nächsten
Augenblick hatte ich allerdings das Gefühl, als ob die Gebete und
Führbitten unzähliger Menschen in der kalten Luft des Kirchenraumes
schweben würden. Der ganze Ort schien von dieser geheimnisvollen Kraft
erfüllt zu sein, als hätten zahllose Gläubige im Lauf der Jahrhunderte
etwas von sich selbst in diesem Raum zurück gelassen, das nun die
Altäre, Steine und Skulpturen durchdrang.
Überwältigt stand ich da,
noch immer keinen Meter vom Eingangsportal entfernt. Langsam ließ ich
meinen Blick durch den reich verzierten Raum schweifen. Ich sah Fresken
in lebendigen leuchtenden Farben, Marmorsäulen deren Musterung mir wie
gerade erst erstarrte und zu Stein gewordene Flammen erschienen,
verschwenderisch ausladende Statuen, deren Augen mich verfolgten, mir
zulächelten und mich dennoch nicht ängstigten. Von all dem tief bewegt
und überwältigt, ging ich ein Stück weiter durch den Raum, zwischen den
Bänken und Säulenreihen hindurch.
Es war nicht so sehr die
Pracht des ausgeschmückten Kirchenraumes, sondern dieser andere
“Bewusstseinszustand“ der mich immer mehr in seinen Bann zog. Nach
einiger Zeit wurde ich auf eine kleine Seitenkapelle aufmerksam, die im
Querhaus untergebracht war. Mich überkam der Wunsch, diesen kleinen Raum
zu betreten. Langsam und so leise wie es mir möglich war schritt ich
darauf zu. Die Gittertür zu der kleinen Kapelle stand offen.
Dieser Raum war in seiner Art ganz anders als der Rest der
Wallfahrtskirche, in ihm befand sich nicht mehr als ein großer
Kerzenaltar. Die Wände waren ohne jeden Schmuck und vom Ruß ungezählter
Kerzen schwarz gefärbt. Ein Kreuzgewölbe überspannte die niedrige
Kapellendecke. Schon auf dem Weg zu diesem Raum hatte ich das Gefühl mit
jedem Schritt, die Welt und alle Zeit weit hinter mir zurück zulassen.
Thomas, vielleicht kannst du dir vorstellen, wie ich mich fühlte, als
ich die kleine Kapelle betrat und direkt vor dem Kerzenaltar stand.
Allein in einem kalten, vielleicht acht Quadratmeter großen Raum, mit
dunklen geschwärzten Wänden, nur erhellt von brennenden Kerzen. Schon
nach wenigen Augenblicken erfuhr alles um mich herum eine weitere
Veränderung. Es zog mich fort und ich wandelte jenseits der Grenzen von
Gedanken und Logik. Mir war zumute als würden die Jahrhunderte aus den
steinernen Mauern auf mich einströmen. Umgeben von diesen alten Steinen,
die so viel gesehen hatten, sah ich mein eigenes Leben, meine eigenen
Erfahrungen zusammen fallen und in den unendlich weiten Dimensionen von
Zeit und Raum vergehen. In diesem Moment war alles Eins und vollkommen,
ohne Gedanken, Fragen oder Träume. Ich stand vor den Kerzen und blickte
in ihre ewig unbewegten Flammen.
Nach einiger Zeit kehrten die
Gedanken und Fragen, die mich damals beschäftigten, wieder. Langsam
gewann die gewohnte Welt aus Namen und Bewertungen ihre Gültigkeit
zurück. Fast im selben Moment tauchten eine Menge neuer Fragen in mir
auf und es sollten viele Jahre vergehen, bis ich sie beantworten konnte.
Allerdings wurde dieser Moment zu einem Wendepunkt in meinem Leben.“
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