Mittwoch, 5. März 2014

Auszug aus: "Das Erwachen des Thomas K."

Auszug aus: "Das Erwachen des Thomas K."

Nun schwieg er einen Augenblick, schließlich begann er erneut zu reden: „Vor vielen Jahren, ich war gerade zwanzig Jahre alt, besuchte ich an einem feuchtkalten Februartag eine barocke Wallfahrtskirche. Nachdem ich durch das mächtige Eingangsportal getreten war und sich die Tür hinter mir geschlossen hatte, umfing mich die Stille des weiten Raumes. Niemand außer mir war in diesem Moment in der Kirche. Trotzdem spürte ich, dass die Luft erfüllt war von etwas Unbekanntem und Wundersamen. Erst erschien es mir wie ein stilles Echo der Zeit, eine Emotion hervorgerufen durch das Alter und die Pracht des Gebäudes. Im nächsten Augenblick hatte ich allerdings das Gefühl, als ob die Gebete und Führbitten unzähliger Menschen in der kalten Luft des Kirchenraumes schweben würden. Der ganze Ort schien von dieser geheimnisvollen Kraft erfüllt zu sein, als hätten zahllose Gläubige im Lauf der Jahrhunderte etwas von sich selbst in diesem Raum zurück gelassen, das nun die Altäre, Steine und Skulpturen durchdrang.
Überwältigt stand ich da, noch immer keinen Meter vom Eingangsportal entfernt. Langsam ließ ich meinen Blick durch den reich verzierten Raum schweifen. Ich sah Fresken in lebendigen leuchtenden Farben, Marmorsäulen deren Musterung mir wie gerade erst erstarrte und zu Stein gewordene Flammen erschienen, verschwenderisch ausladende Statuen, deren Augen mich verfolgten, mir zulächelten und mich dennoch nicht ängstigten. Von all dem tief bewegt und überwältigt, ging ich ein Stück weiter durch den Raum, zwischen den Bänken und Säulenreihen hindurch.

Es war nicht so sehr die Pracht des ausgeschmückten Kirchenraumes, sondern dieser andere “Bewusstseinszustand“ der mich immer mehr in seinen Bann zog. Nach einiger Zeit wurde ich auf eine kleine Seitenkapelle aufmerksam, die im Querhaus untergebracht war. Mich überkam der Wunsch, diesen kleinen Raum zu betreten. Langsam und so leise wie es mir möglich war schritt ich darauf zu. Die Gittertür zu der kleinen Kapelle stand offen.

Dieser Raum war in seiner Art ganz anders als der Rest der Wallfahrtskirche, in ihm befand sich nicht mehr als ein großer Kerzenaltar. Die Wände waren ohne jeden Schmuck und vom Ruß ungezählter Kerzen schwarz gefärbt. Ein Kreuzgewölbe überspannte die niedrige Kapellendecke. Schon auf dem Weg zu diesem Raum hatte ich das Gefühl mit jedem Schritt, die Welt und alle Zeit weit hinter mir zurück zulassen.

Thomas, vielleicht kannst du dir vorstellen, wie ich mich fühlte, als ich die kleine Kapelle betrat und direkt vor dem Kerzenaltar stand. Allein in einem kalten, vielleicht acht Quadratmeter großen Raum, mit dunklen geschwärzten Wänden, nur erhellt von brennenden Kerzen. Schon nach wenigen Augenblicken erfuhr alles um mich herum eine weitere Veränderung. Es zog mich fort und ich wandelte jenseits der Grenzen von Gedanken und Logik. Mir war zumute als würden die Jahrhunderte aus den steinernen Mauern auf mich einströmen. Umgeben von diesen alten Steinen, die so viel gesehen hatten, sah ich mein eigenes Leben, meine eigenen Erfahrungen zusammen fallen und in den unendlich weiten Dimensionen von Zeit und Raum vergehen. In diesem Moment war alles Eins und vollkommen, ohne Gedanken, Fragen oder Träume. Ich stand vor den Kerzen und blickte in ihre ewig unbewegten Flammen.

Nach einiger Zeit kehrten die Gedanken und Fragen, die mich damals beschäftigten, wieder. Langsam gewann die gewohnte Welt aus Namen und Bewertungen ihre Gültigkeit zurück. Fast im selben Moment tauchten eine Menge neuer Fragen in mir auf und es sollten viele Jahre vergehen, bis ich sie beantworten konnte. Allerdings wurde dieser Moment zu einem Wendepunkt in meinem Leben.“


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